Stammtischpolitik – nicht wenige sind der Meinung, dass das europäische Wohl in irgendeiner Kaschemme zwischen Korn, Bier und einer Pulle Wein beschlossen wird. Dominik Breuer – Autor, Regisseur, Schauspieler, Sprecher, Dozent (die Liste ist noch länger) – vom Brachland-Ensemble weiß immerhin mit Gewissheit, dass auch Europapolitiker eine Stammkneipe haben, auch wenn sie die Geschicke der Nationen vor der Lokaltür lassen.
Dominik Breuer ist ein politischer Mensch, und als solcher ein sehr gewissenhafter. Nach über 1,5 Jahren Recherche unter anderem in Berlin, Brüssel und Straßburg, nach über 100 Interviews (vornehmlich in den Stammkneipen der Interviewten) mit Abgeordneten, Journalist*innen, Diplomat*innen und einer Reihe von Fachleuten malte er ein detailliertes Bild europäischer Politik.
Aus dieser akkurat entworfenen Studie entstand in Zusammenarbeit mit Chefdramaturgin Inge Zeppenfeld vom Theater Aachen das Planspiel „Lokal Europa“.

Welch abstruser Gedanke – eine Kneipe, in der das Schicksal Europas entschieden wird. Ach was, der ganzen Welt, denn in Zeiten der Globalisierung kann man Entscheidungen schwerlich eingrenzen. Und welch famoser Gedanke – schließlich kann das, was vor der Haustür funktioniert für den Rest der Welt nicht ganz und gar schlecht sein, oder etwa doch?

Petya Alabozova, Tim Knapper

Wie verzwickt und vertrackt Politik ist, welche weitreichenden Folgen unüberlegt und blauäugig getroffene Entscheidungen haben können, erfahren die Stammgäste des Lokal Europa am eigenen Leib. Denn sie sind diejenigen, die Top oder Flop sagen, sie sind aber auch diejenigen, die mit den Konsequenzen ihres Handelns konfrontiert werden und mit den Folgen „leben müssen“.
Auch wenn die magere Zahl von knapp über zwanzig Zuschauern vor Ort (150 im Livestream) nicht im Sinne des Erfinders war, verströmt genau diese kleine Gruppe ein Gefühl von „Stammtischgesellschaft“. Man sitzt in der von Franziska Smolarek liebevoll schäbig eingerichteten Kneipe, lauscht den Klängen des Alleinunterhalters Michael (bitte unbedingt englisch aussprechen, darauf legt er viel Wert), wundert sich über die Spleens des Stammgastes Volker/Volkmar, hört den Problemen der Wirtin mitfühlend zu, bedauert die familiären Probleme von Kellnerin Leni, lauscht dem Lokaljournalisten Klaus – und entscheidet nebenbei über das Schicksal der Welt. Und alles hängt irgendwie zusammen, wenn auch der seidene Faden nicht immer sichtbar ist.

Entwicklung, Kultur, Umwelt, Soziales – nur Einige der Bereiche, in denen wir, die Zuschauer – Pardon, die Stammgäste – Gesetzesentwürfen ein „Go“ oder „Hold“ geben müssen. Wieweit wir uns im Vorfeld informieren möchten, hängt von uns ab. Wie alles an diesem Abend. Wir bestimmen den Verlauf dieser außergewöhnlichen Inszenierung. Unsere Entscheidungen tragen das Spiel in die eine oder eben andere Richtung. Und ich bin mir sicher, egal wie die Entscheidungen ausfallen, man wird immer verblüfft sein, wie kurzsichtig man doch sein kann.

Ich will nicht zu viel verraten, würde das den Spaß doch erheblich mindern, eins sei aber gesagt: hört genau zu und wählt nicht den leichtesten/kürzesten Weg!

(Wer sich beim Durchblättern des überaus informativen Programmheftes wundert, dass keine Spieldauer angegeben wird – tja, auch das liegt in den Händen der Zuschauer)

Benedikt Voellmy, Ognjen Koldzic, Marion Bordat, Petya Alabozova

Der Wirt ist Dreh- und Angelpunkt jeder anständigen Kneipe. In diesem Fall das weibliche Pendant, die Wirtin. Gastschauspielerin Marion Bordat spielt die resolute Frau hinter der Theke mit äußerster Glaubwürdigkeit. Ihre dynamische und intensive Darstellung einer Frau, die neben all der Geselligkeit und Mütterlichkeit ihren schlichten Lebensunterhalt verdienen muss, weckt uneingeschränkte Sympathie für die Figur. Wären ihr die Hähnchenbrüste für ihre berühmte Mahlzeit nicht ausgegangen, hätten wir zwar einen netten, aber doch ziemlich langweiligen Abend erlebt. Aber so wie der Flügelschlag eines Schmetterlings einen Orkan auslösen kann, kann auch das Fehlen besagter Filets einen politischen Wirbelsturm entfachen. (Eine ziemliche geniale Idee der Macher!)
Leni ist die gute Seele des Lokals, eine alleinerziehende Mutter aus Makalowien (eine herrliche Wortschöpfung, ich musste sofort an Tim und Struppi denken …). Auch wenn der charmante Akzent der gebürtigen Bulgarin Petya Alabozova langsam verschwindet, ist sie natürlich die ideale Besetzung für die zarte Leni. Mit unaufgeregten Tönen versteht die Schauspielerin, den Finger auf den wunden Punkt zu legen und verleiht der Figur von Leni, einer Frau zwischen zwei Welten, eine ergreifende Tiefe.
Volker/Volkmar alias Ognjen Koldzic ist ganz schön schräg. Irgendwo zwischen Empathiker und Phlegmatiker pendelnd, gehört der Stammgast zum Inventar. Die lässige Laissez-faire Spielweise des Schauspielers lässt einen mitunter vergessen, dass Volker/Volkmar eine Ausgeburt der Fantasie ist.
Benedikt Voellmy ist natürlich Michael ( [ˈmaɪkəl] !!!). Der Alleinunterhalter mit einem Hauch von cockney accent sorgt, nun ja, für die Unterhaltung … nicht nur als Allroundmusiker mit samtweicher Stimme, nein, auch als die genormte, nicht gekrümmte berühmte europäische Gurke ist Benedikt Voellmy voll in seinem Element.
Schauspieler Tim Knapper hat alle Hände voll zu tun. Als Klaus, der Journalist, als Fernsehmoderator, als Abgeordneter, als Bauer, als … Teilweise im Sekundentakt wechselt Tim Knapper nicht nur die Verkleidung, sondern auch Dialekt, Haltung, Mimik, schlüpft von einem Gemütszustand in den nächsten, rennt von einer Location zu der anderen. Alle Achtung!

Ognjen Koldzic, Petya Alabozova, Marion Bordat, Tim Knapper

Was den Zuschauern meist verborgen bleibt, nämlich die Technik, spielt bei dieser Inszenierung eine besondere Rolle. Nicht nur wegen der Greenscreen-Technik, bei der man live einen kleinen Einblick in die Trickkulisse des Fernsehens bekommt, sondern vor allem wegen des Livestreams. 150 Zuschauer waren bei der Premiere dabei und haben von Zuhause aus das Geschehen beeinflusst. Regisseur Dominik Breuer und Filmemacher David Gerards aus Aachen haben den technischen und künstlerischen Workflow erarbeitet und umgesetzt.

Nicht selten während der Vorstellung überkam mich das Gefühl: Was für ein Kindertheater, wie unglaubwürdig ist das denn! Aber genau das ist es! Denn, wie es im Programmheft heißt: „Je absurder Ihnen eine Aussage erscheint, umso wahrscheinlicher ist es, dass sie wahr ist …“
Auch wenn die meisten von uns sich als politische Menschen bezeichnen würden, die wenigsten machen sich die Mühe, einen Blick hinter die Kulissen zu wagen. Denn das Geschehen zu entwirren und der Versuch, einen roten Faden, an dem man sich lang hangeln kann, in dem Chaos zu entdecken, ist wahrlich nichts für Laien.

Das Stück fordert – in vielerlei Hinsicht. Und hier noch einmal der Hinweis: lest das Programmheft durch! Es ist informativ, amüsant und hilft, in der Ferne das Schimmern des roten Fadens zu erkennen.

Lokal Europa
Konzeption: Dominik Breuer und Inge Zeppenfeld
Theater Aachen im DEPOT Talstraße

Weitere Termine:
Mittwoch, 28.10.2020, 19:00 Uhr
Dienstag 10.11.2020, 19:00 Uhr
Freitag, 13.11.2020, 19:00 Uhr
Mittwoch, 02.12.2020, 19:00 Uhr

Zu allen Terminen gibt es Streaming-Tickets (€ 12,50, Kontingent jeweils 150)

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