Und stetig dreht sich das Liebeskarussell

Die ewige Frage: Was treibt unsere Handlungen an? Geist und Verstand oder doch etwa die Gefühle, die in unseren Körpern wüten?
Da schlüpfen die Begriffe Philosophie und Liebe in hübsche allegorische Kleidchen und wollen in ihrer Eitelkeit um die Wahrheit wetteifern. Und der Mensch ist wieder mal Spielball der eigenen Erfindung.

Irren und Wirren einer barocken Telenovela

Was interessiert die Entschlossenheit von gestern, wenn heute die Schönheit in der Haut eines Fremden auf der Schwelle steht? Orontea, emanzipierte Regentin und überzeugter Single, wird in ihren Grundfesten erschüttert, als der hübsche Alidoro an ihrem Hof auftaucht. Aber nicht nur die königliche Hoheit wird um den Verstand gebracht. Reihenweise geraten die Damen des Hofes aufgrund der Reize des Jünglings in die Fänge der Liebe.
Auch im 17. Jahrhundert war man sich der Notwendigkeit seelischer Verwicklungen bewusst, satte dreieinhalb Stunden lang wird gebuhlt, geliebt, gestritten und gelitten, bis die richtigen sich finden dürfen. Dazwischen gibt es reichlich überraschende Wendungen.
Wundervoll modern und ganz schön kühn ist dabei die Oberflächlichkeit, mit der die Gefühle erklärt werden. Innere Werte? Ach was! Es ist die Schönheit, die zieht. Eine locker-flockige höfische Welt, die die heutige Tiktok-Selfie-Generation ohne weiteres in die Tasche steckt.
Und über allem thronen Filosofia und Amore und ziehen ihre unsichtbaren Fäden, an deren Ende alle genüsslich zappeln.
Antonio Cesti komponierte im 17. Jahrhundert diese frische und freche Oper, die dem damaligen Publikum mit Sicherheit einige Schamröte ins Gesicht trieb.

Subtile Vordergründigkeiten

Ludger Engels’ Inszenierungen haben eines gemeinsam: Sie sind oft plakativ, ohne trivial zu werden, sie sind fugendicht, ohne an Geschmeidigkeit und Agilität zu verlieren. Zusammen mit Bühnenbildner Ric Schachtebeck und Kostümbildner Raphael Jacobs kreiert Engels eine höfische Welt, die spielerisch barocke Opulenz mit Berghain-Ästhetik verbindet und in der die Bewohner ein vielschichtiges Terrain als Spielwiese für ihre Exzentrizitäten ihr Eigen nennen dürfen. Und das nicht ohne einen gewissen Humor.

„KCUFDNIM“ und „YXES“ kann man auf den Kleidern der Amore und ihrer Diener lesen. Erst wenn sie sich vor einen Spiegel stellen, ihrer Selbstliebe frönen, erkennen sie die Bedeutung der Wörter. Die Dekadenz wird nach außen projiziert, Lichterglanz und Glamour nur für die Zuschauer, während man sich im Inneren mit einem königlichen Hocker und schäbigen Sesseln zufriedengeben muss. Sogar die Waschmaschine muss man selbst bedienen.

Auch das Spiel an sich erfährt eine besondere, fast schon schelmische Betonung. In letzter Zeit kursieren Videos im Netz, man sieht Menschen, die mitten auf der Straße oder wahlweise in Kaufhäusern, auf Rolltreppen oder sonstigen zugänglichen Orten anfangen zu tanzen; immer mehr gesellen sich dazu, immer ausgefeilter wird die Choreografie, immer frenetischer der Tanz, bis hin zu einer bühnenreifen Performance.
Diese unmittelbaren Tanzeinlagen setzt Engels an diversen Stellen der Geschichte ein und unterstreicht damit nicht nur das rollenhafte Handeln der Figuren und ihre Neigung zur Performance, sondern schafft auch ein Wurmloch zu dem merkwürdigen Verhalten der geschlechtsreifen Selfie-Generation. Mit Augenzwinkern, scheint mir.
Schön auch die Verbildlichung, wie einem oder etwas das Licht ausgeblasen, der Garaus gemacht wird – einfach eine Kerze auspusten. Diese kleinen Momente der Inszenierung zaubern einem immer wieder ein leichtes Lächeln ins Gesicht. So ging es mir zumindest.

Domestizierte Natur

Natur im 21. Jahrhundert. Nicht nur im Theater stellt man sich die Frage, wie hole ich die Elemente auf die Bühne. Wir entfremden uns der Natur, deren Teil wir dennoch sind. Die Gewalt der Elemente entgleitet uns immer mehr. Das, was bleibt, ist deren Konservierung. Fotos, Filmaufnahmen, Gemälde.

Viel heiße Luft um nichts. Beziehungsweise viel heiße Luft, aber dort, wo sie hingehört: eingesperrt in einem Kasten, sichtbar und kontrollierbar. Genau wie die kleinen Pflanzen, die wir auf unseren Balkonen im Großstadtdschungel aufstellen. Wir bändigen die Natur, genau wie wir einst unsere Haustiere gebändigt haben.

Das sind die ersten Gedanken, die mir durch den Kopf gehen, als die metallenen Beete bedächtig auf die Bühne geschoben werden. Oder als der große Glaskasten über den Köpfen der Akteure sich langsam mit Nebel füllt. Science-Fiction.
Ein schönes und gleichzeitig trauriges Bild in mehrfacher Hinsicht. Weil das an ein Bezwingen der Natur erinnert, an das Zähmen des Unzähmbaren. Eine Wolke im Glas. Gleichzeitig ist das ein wunderbarer Einfall, die Kräfte der Natur auf die Bühne zu holen. Und so sehr barock.

Sreten Manojlovic, Thomas Scott-Cowell · Foto: Wil van Iersel

Wenn der Handschuh fällt

Sodom und Gomorrha könnte man meinen, diese Kreuz-und-quer-Verliebtheit. Ein Auf und Ab der Gefühle, ein Wechselbad der Emotionen. Eigentlich ein totales Chaos.
Allein Orontea durchlebt im Laufe der Geschichte die gesamte Klaviatur menschlichen Empfindens, aus einer selbstsicheren Single-Frau wird sie zu einem verliebten Wrack, einer eifersüchtigen Amazone, die zum Schwert greift, bis hin zur geschmeidigen Geliebten. Mezzosopranistin Fanny Lustaud gelingt eine dichte Charakterisierung der Figur, ihre vielschichtig schöne Stimme lanciert zwischen eindringlich schroff und zart (mit)fühlend. Den Widersprüchlichkeiten der Figur begegnet Lustaud mit einem klaren, schnörkellosen Spiel und lässt ihre Stimme zur vollen Geltung kommen. Gefällt sehr.
Das Objekt der Begierde, Alidoro, wird im cremig weichen Timbre des englischen Countertenors Thomas Scott-Cowell lebendig. Hier und da etwas zu leise, doch wunderbar schmachtend und eindringlich.
Ausgezeichnet die Besetzung der Hofdame und Konkurrentin No. 1, Silandra, mit der jungen Sopranistin Yewon Kim. Ebenso überzeugend ist Countertenor Léo Fernique in der Rolle ihres verschmähten und schließlich wiedergewonnenen Geliebten Corindo. Ferniques komödiantische Einlagen brachten die eine oder den anderen zum Dauerkichern. Ebenso wie Tenor Patricio Arroyo, der als aufgedrehte und liebeskranke Mutter zur Höchstform auflief. Die Rolle des treuen Dieners Tibrino teilen sich Anne-Aurore Cochet und Jelena Rakić, zwei Sopranistinnen, die in Produktionen wie „Carmen“ und „Sweeney Todd“ mit der Vielschichtigkeit ihrer Stimmen und dem Spektrum ihres Spiels beeindruckten. Hofphilosoph Creonte wird von Bariton Alexander Kalina herrlich väterlich und wundervoll konservativ porträtiert. Konkurrentin No. 2, Giacinta, wird in der Stimme von Larisa Akbari lebendig. Absolut überzeugend, wie androgyn und zerbrechlich Akbari die Rolle anlegt.
Buffo zieht immer, vor allem wenn man Buffo beherrscht. Das tut der Bassbariton Sreten Manojlovic und lässt den dem Wein zugetanen Diener Gelone mit einer wunderbaren Stimmakrobatik genüsslich durch das Stück wanken. Vom dunkelsten Bass bis zum feinen Falsett, Manojlovics Stimme lässt kaum Wünsche offen, hinzu kommt ein exzellentes komödiantisches Talent. Eine Paraderolle.
Frech Eva Diederix als Amore und besonnen Juliana Curcio (Ayaka Igarashi) als Filosofia. Sie sind omnipräsent, beobachten genüsslich das Treiben, das sie mehr oder weniger selbst heraufbeschworen haben.

Am Ende lichtet sich das Chaos. Frau findet zu Mann und Mann findet zu Frau.
Handschuhe wie Masken, die man fallen lässt.
Berühren, zulassen, erfahren, ertasten, erfühlen. Ehrlich und wahrhaftig. All das ist nur dann möglich, wenn wir uns der Barrieren entledigen, wenn wir unsere Haut freilegen, auch wenn wir dadurch verletzlicher werden.

Akzent Barock!

Hier sollte man nicht viel drum herumreden: Unter der Leitung von Christopher Bucknall hat das Aachener Orchester wieder mal ein Stück Operngeschichte lebendig werden lassen. Wie seit Jahren wurde auch diesmal auf Originalinstrumenten gespielt und somit die besondere barocke Klangfarbe erzeugt, die dem Stück erst zu seinem verdienten Glanz verhilft. Dem variationsreichen, frechen und frischen Tempo verdankt „L’Orontea“ ihre Beliebtheit nicht nur bei Fans barocker Musik.

Fanny Lustaud – im Vordergrund Mojtaba Ahmadi, Thomas Scott-Cowell, Fatima Niza, Ken Bridgen · Foto: Wil van Iersel

Das Kribbeln in den Fingerspitzen

In der Januarausgabe der Zeitschrift Monopol beschreibt die Bildhauerin Katinka Bock den Zauber, den Stillleben jeglicher Art auf ihre Seele ausüben. Das Glück, das sie beim Betrachten empfindet, das Kribbeln in den Fingerspitzen.

Ludger Engelsʼ Inszenierung ist bunt und total crazy. Sie ist ironisch und verwegen und auf den ersten Blick so auffallend grell wie das neueste Influencer-Video auf Instagram.
Doch während sich hinter dem überspannten Video im Normalfall nichts verbirgt, quillt diese Inszenierung über vor Allegorien, kleinen, aber feinen Sinnbildern, die sich in die Seele, in das Gedächtnis eingraben. Aber wie immer kommt es auf die Mischung an.
Ludger Engels kann es einfach, er kann das Seichte und das Tiefsinnige zu einer Meisterschaft bringen. Und er kann vorführen. Denn nicht immer ist das vordergründig Plakative leer und bedeutungslos, genauso wenig schwappt das vermeintlich Bedeutungsschwangere immer vor Sinnhaftigkeit über. Engels gibt so den Figuren und der Geschichte eine verwirrende Doppelbödigkeit, die einen im komödiantischen Strudel nur streifen mag, aber dennoch haften bleibt. .

Es ist vor allem dieses Bild der fallenden Handschuhe, die meine Fingerspitzen kribbeln lassen. Und es ist dieses Kribbeln, auf das es ankommt. Immer.

L’Orontea
Dramma musicale von Antonio Cesti
Inszenierung: Ludger Engels
Theater Aachen Bühne

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