Die Geschichte der Kioske in Aachen ist auch eine Geschichte der Milchwirtschaft, denn ab 1900 entstanden verschiedene kleine Bauten als „Milchbüdchen“, um die Bevölkerung mit dem als nahrhaft geltenden weißen Gut zu versorgen. Das Milchbüdchen von Anna Braun-Sittarz sollte dabei noch eine besondere Rolle spielen, unter der Ladentheke handelte sie mit aus den Niederlanden geschmuggelten Dossiers des Widerstandes gegen die Naziherrschaft.

Auf der Suche nach der Entstehungsgeschichte der Kioske in Aachen stößt man im Stadtarchiv Aachen immer wieder auf ein Wort, das heute wahrscheinlich in diesem Zusammenhang verwirren dürfte: Milch. Denn wer denkt heute schon ernsthaft daran, wenn er einen Kiosk aufsucht? Anders war das noch vor rund hundert Jahren.
Die ersten Akten, die einsehbar sind – früheres Material zum Thema ist leider unter Verschluss, weil mit Schimmel kontaminiert –, stammen aus dem Jahr 1912. Handschriftliche Notizen in den „Milchbüchern der Stadt“ berichten von einem Milchbüdchen am Kaiser-Friedrich-Platz, das die Stadt eigentlich 1.250 Mark kosten sollte, aber dann mit 1.485 Mark zu Buche schlug (schon damals fielen selbst so kleine Bauvorhaben offenbar teurer aus als geplant). Eine „Hossfeld Wetterschutz und Wartehallengesellschaft“ beantragte zudem, weitere Standorte an den Haltestellen der seit 1880 in Aachen verkehrenden Straßenbahn errichten zu dürfen. Am Kaiserplatz gab es ein Milchbüdchen, und die Kaiserbrunnen AG betrieb ebenfalls schon eigene Trinkhallen.
„Billigste Art der Mahlzeit“ soll den Gang ins Wirtshaus verhindern

Erste organisierte Milchversorgungsaktivitäten gab es etwa ab der Jahrhundertwende, damals kamen die Unternehmungen aus einer Unterabteilung im Bereich der Armenverwaltung. Am Fischmarkt ist 1915 ein „Erfrischungsraum“ belegt, der mit Kaffee und alkoholfreien Getränken Gäste locken wollte, er benötigte noch die Genehmigung der Milchzentrale.
Mit Beginn des Ersten Weltkrieges gingen die Aufgaben zum Lebensmittelamt über. Es herrschte Milchmangel, Milchausschankstellen sollten geschlossen werden und Milch sollte nur noch an Kinder und Kranke ausgegeben werden.
Dagegen wehrte sich im Oktober 1915 die „Gemeinnützige Gesellschaft für Milchausschank“ und wies in einem Brief die Vorzüge der Milch aus: Sie erspare den Gang in das Wirtshaus und wirke damit der Alkoholsucht entgegen. Sie sei die billigste Art der Mahlzeit für arme Menschen, die außerhalb in den Fabriken arbeiten. Dennoch wurden im darauffolgenden Dezember die Milchausschankstellen und Milchbüdchen vorerst geschlossen.

Erst einige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg kam wieder Leben in die Büdchenszene, nachdem die größten Hungerjahre vorbei waren und in Aachen 1925 der direkte Straßenhandel mit Milch verboten wurde.

Frauen und Rentner konnten etwas hinzuverdienen

Immer weitere Anwärter für Verkaufsstellen wurden bei der Milchzentrale vorstellig. Vor allem für Menschen mit wenig Geld wie Frauen und Rentner boten sie eine Möglichkeit, sich selbstständig zu machen und etwas dazuzuverdienen. Ein Antrag, ein Milchausschankbüdchen auf einer Straßenecke betreiben zu dürfen, kam am 4. Juli 1927 von Anna Braun-Sittarz. Er wurde zunächst abgelehnt.

Diskussionen gab es 1927 ebenfalls um ein Milchhäuschen am Ponttor. Dort stand zu dem Zeitpunkt eine Normaluhr, und die Überlegung war, eine „dringend notwendige Milchverkaufsstelle“ in ein Transformatorhäuschen am Platz zu verlegen, da „die werktätige Bevölkerung viel Wert darauf lege, in der Nähe ihrer Arbeitsstelle Milch trinken zu können“.
Die Mayersche, seit 1817 in Aachen ansässig, kombinierte clever an den Kleinbahnhaltestellen Transformatorhäuschen, Zeitungsverkaufsstelle und öffentliche Bedürfnisanstalt. Sie überlegte, eine Kooperation mit Kaiserbrunnen einzugehen, die eine mietfreie Verkaufsfläche für Milch und andere Getränke bekommen sollten, falls sie sich an den Kosten für den Bau beteiligten. Die Kooperation scheiterte jedoch. Wahrscheinlich gut so, denn 1929 wird ein Milchhäuschen von Kaiserbrunnen aus „ärztlichen Gründen“ abgelehnt, da die Kaiserbrunnen-Trinkhallen „unsauber“ seien.

1929: Anna Braun-Sittarz erhält Genehmigung

Anna Braun-Sittarz, Jahrgang 1892, ließ zwischenzeitlich nicht locker. Trotz mehrfacher Absagen bewarb sie sich weiterhin für diesen Markt. Die geschiedene und zum zweiten Mal verheiratete Frau hatte zuvor in einer Aachener Tuchfabrik als Weberin gearbeitet und fünf Jahre lang – bis 1929 – zunächst für die kommunistische Partei, dann als Parteilose dem Stadtrat angehört.
In diesem Jahr erhielt sie schließlich die Erlaubnis für ein Milchbüdchen auf der Insel Mauerstraße/Königstraße gegen Pacht ab dem 1. Dezember 1929. Sittarz ließ das kleine Bauwerk auf eigene Kosten errichten, nachdem sie einen Kredit aufgenommen hatte.

Von Fernsprecher bis Kioskwerbefilmapparat: Ideen für Büdchen im öffentlichen Raum

Das Geschäft mit den Büdchen boomte in der ganzen Stadt, die Angebotspalette wurde immer mannigfaltiger. Das belegt beispielsweise ein Schreiben von Wilhelm Erkelenz vom 22. Juni 1931. Der Rentner hatte vorher einen Laden in der Franzstraße betrieben, jetzt beantragte er eine „Verkaufsstelle für Kaffee und Zuckerwaren aller Art, wie solche bereits vielfach in Aachen bestehen“. Diese wolle er am Nordbahnhof errichten, in unmittelbarer Nähe von Brauers Schirmfabrik (heutiges Ludwig Forum). Die Reichspost beanspruchte den Raum ebenfalls für sich und ersuchte darum bei der Stadt Aachen, an gleicher Stelle ein Telefonhäuschen platzieren zu dürfen. Argumentiert wurde mit den „mangelnden Telefongelegenheiten, wenn man von Fernsprechern in Hotels, Restaurants und Cafés absieht, wo telefonieren teuer ist, da etwas verzehrt werden muss“. Mit dem Argument, „daran wird in unserer heutigen, im Zeichen des technischen Fortschritt stehenden Zeit nicht vorbeizukommen sein“, wusste sie zu überzeugen.
An allen Stellen wurde in den Jahren 1927 bis 1930 gestritten, es wurde verhandelt und Beschwerden wurden eingereicht. Die Buchhandlungen machten sich den Raum für Zeitungsverkaufsstellen streitig. Die Stadt kaufte 1928 die Milchbüdchen von der Armenverwaltung, um sie selbst zu betreiben, Kaiserbrunnen legte Beschwerde ein, weil ihnen die Trinkhalle am Holzgraben weggenommen und an eine Benzingesellschaft weitergereicht wurde. Mit dem aufkommenden Autoverkehr drängten Reklamekioske auf den Markt, die die Autofahrer mit Informationen versorgen wollten. Eine überregionale Firma mit „Kioskwerbefilmapparaten“ wollte an öffentlichen Plätzen Propagandafilme zeigen. 1928 wurde dem Bürgermeister jedoch noch dringend davon abgeraten, sie aufzustellen.

Im Widerstand: Anna Braun-Sittarz fliegt auf

Mit oder ohne Propagandafilmbüdchen: Die Nationalsozialisten kamen 1933 an die Macht, und Anna Braun-Sittarzʼ Verkaufsstätte wurde Umschlagplatz für illegale Schriften des Widerstandes. Wegen der Nähe zur Grenze hatte Aachen eine gewisse Bedeutung für den antifaschistischen Widerstand. Verbotene Organisationen und politische Parteien, die ins benachbarte Ausland geflohen waren, schmuggelten Informationsmaterialien wie Flugblätter bis an die Grenze im Aachener Wald. Dort wurden nachts die Pakete abgeholt und zu verabredeten Verteilerstellen wie dem Kiosk von Anna Braun-Sittarz gebracht. Kleine Geschäfte oder Handwerksbetriebe eigneten sich besser für solche Tätigkeiten als Privathaushalte, wo wenige Menschen ein und aus gingen.

Bereits im Jahr 1933 fliegt Anna Braun-Sittarzʼ Tätigkeit jedoch erstmals auf und sie wird wegen illegaler politischer Tätigkeit verhaftet. Vier Jahre später wird sie vor Gericht gestellt und zu 27 Monaten Zuchthaus wegen Vorbereitung zum Hochverrat verurteilt. Nach ihrer Entlassung wird sie weiter von der Gestapo überwacht. Trotzdem setzt sie sich auch dann noch für andere Verfolgte ein. In den letzten Kriegstagen bleibt sie in Aachen und nimmt nach der Befreiung im Oktober 1944 Kontakt zum amerikanischen Ortskommandanten auf. Im März 1945 ist sie Gründungsmitglied des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, der als erste demokratische Gewerkschaft der Nachkriegszeit gegründet wurde. Kurz darauf, am 24. April 1945, kommt die Aktivistin bei einem Autounfall in der Nähe von Aachen ums Leben, als sie zu einer Delegiertenkonferenz der Gewerkschaft der Textil-Bekleidung unterwegs ist. So endet Anna Braun-Sittarzʼ Geschichte jäh und frühzeitig unter nicht weiter dokumentierten Umständen.

Auch die Geschichte des Milchverkaufs hat irgendwann wie in allen Kiosken in Aachen ein Ende gefunden – heute wird an gleicher Stelle meist das verkauft, wovor das Milchbüdchen früher bewahren sollte.

Auf der Rückseite des kleinen Häuschens wurde im Jahr 2002 eine Infotafel des Projektes „Wege gegen das Vergessen“ installiert. Was die wenigsten wissen: Der winzige Platz, auf dem das Büdchen steht, wurde 1995 nach Anna Sittarz benannt.
Das Büdchen steht immer noch, ist heute jedoch kein Kiosk mehr. Im „Babylon Imbiss“ wird Falafel und Döner über die Theke gereicht.

Quellen:
Stadtarchiv Aachen, diverse Akten 1912-30 sowie zusätzliche Infos von Angelika Pauels, der stellvertretenden Leiterin des Stadtarchivs, Wege gegen das Vergessen, Gedenktafel am Kiosk auf dem Anna-Sittarz-Platz sowie Website wgdv.de
und zusätzliche Infos von Holger A. Dux, Autor zahlreicher regionalhistorischer Veröffentlichungen

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