Welch wundersam geschwungene Wege die Liebe doch gehen kann! Wir begehren meist das Unmögliche, das, was uns verwehrt bleiben soll. Und ist das Glück uns hold, landen wir trotz Widrigkeiten in den Armen der geliebten Person. Ob eine selbstlose oder narzisstische Liebe im Spiel ist, wen kümmert es. Happy End ist Happy End.

Ich sah Molière oder Goethe oder Shakespeare. Einmal sah ich sogar Kaurismäki. Ich sehe diese Herren. Ich sehe sie über der Bühne schwebend, ein wenig wie der Fast Kopflose Nick in den Hallen Hogwarts. Diese Herren schrieben für die Ewigkeit, jede/r schreibt wahrscheinlich für die Ewigkeit. Den wenigsten ist aber bewusst, dass die Ewigkeit sich ständig ändert. Heute so, morgen so, und wer weiß, was übermorgen ist. Wie also geht man mit einem Stoff um, der an und für sich zeitlos ist und doch dem Modediktat, den Sehgewohnheiten unterworfen ist? Vielleicht so wie Christina Rast. Man nimmt den Kern, dieses unveränderliche, bissfeste Etwas und hüllt ihn in die Gewänder der gerade stattfindenden Ewigkeit, auch Zeitgeist genannt. Vorausgesetzt, man erkennt den Kern, die Seele eines Stückes. Seitdem ich bei der Inszenierung von „Tartuffe“ Molière über der Bühne schweben und zufrieden grinsen sah (natürlich nur im übertragenen Sinne, um Missverständnissen vorzubeugen), bin ich eine bekennende Christina-Rast-Anhängerin.
Mit einer an Unbekümmertheit grenzenden Zielsicherheit trifft sie ins Mark, schält die Feinheiten heraus, packt sie in schillernde Bilder, immer etwas skurril, niemals nur schön, denn das wäre langweilig.

Wohin werden wir entführt? Wer grüßt von den bekannten Gesichtern? Kapitän Nemo? Aquaman? Die kleine Meerjungfrau? Wo sind wir? Atlantis? Nimmerland?
Alles ist wässrig, leicht glitschig-rutschig, unbestimmt. Wasser, das gewiss. Sind wir darunter oder darüber? Spielt im Grunde keine Rolle. Genau wie die Figuren, ob Frau oder Mann oder Dazwischen, spielt auch keine Rolle. Alles ist in Bewegung, wellenartig, unfassbar. Und doch sind die Liebenden und Leidenden und Intriganten und Narzissten klar umrandet, klar definiert, unverwechselbar.
Illyrien, eine Illusion von einem Land, als wäre es eine Shakespeareʼsche Scheibenwelt, an deren Ende man ins Nichts fällt. Und wieder emporsteigen kann. Werden und Vergehen ganz nah beieinander. Ein Trichter in der Mitte, der einen einsaugen, aber genauso gut wieder ausspucken kann. Wie leicht zerfledderte Phönixe aus der Asche. Die Kräfte der Natur herrschen hier, Physik – auf eine herrliche Rast’sche Art.

John Wesley Zielmann, Stefanie Rösner, Benedikt Voellmy, Marion Bordat, Marlina Adeodata Mitterhofer, Tim Czerwonatis, Julian Koechlin, Björn Jacobsen. Foto: Marie-Luise Manthei

Die Bühne erinnert entfernt an das „O“ des Globe Theatre. Auf der halbrunden Projektionsfläche barocke Opulenz, Videokünstler Luca Fois wieder mal in Höchstform. Am Rande des Trichters der Narr. Da Alexander Wanat sich während der Proben verletzt hat, übernimmt Tausendsassa Marco Wohlwend die Parts mit den „Stunts“. Und auch wenn Alexander Wanat die erforderliche närrische Akrobatik wunderbar meistert, wurde hier aus der Not eine Tugend gemacht, denn Wohlwend ist sogar als stummes Füllmaterial ziemlich großartig. Auch wenn Alexander Wanat wahrlich keinen Beistand braucht. Sein Narr ist die heimliche Hauptfigur. Cello spielend und mit verführerisch sanfter Stimme entführt er Frau und Mann und Divers im Zuschauerraum in die Zeit der Minnesänger. Und das mit frecher Miene und gekonntem Slapstick.

Illyrien füllt sich. Da wäre der von jeglicher Selbstreflexion freie Herzog Orsino, dem Benedikt Voellmy eine betörend dümmliche Gestalt gibt. Seine angebetete Gräfin Olivia, erst in Schwarz gehüllt, entblättert sich in die kräftige Farbe der Liebe. Wohl nicht für den armen Grafen. Stefanie Rösner spielt die Dame puppenhaft, exaltiert, vom Wahn der Liebe durchgerüttelt, aber doch puppenhaft. Alleine wie sie am Anfang breitbeinig auf der Bühne sitzt wie eine verlassene, trotzige Marionette, ist zum Niederknien.
Der Trichter spuckt Viola aus, die fortan als Cesario die Herzen in Wallung bringt. Vor allem das Herz besagter Gräfin. Marlina Adeodata Mitterhofer spielt sie zart schimmernd und doch voller Kraft, mit nicht knapp bemessenen komödiantischen Einlagen. Malvolio – der einzig wirklich tragische Charakter der Geschichte, ist hoffnungslos in seine Herrin Olivia verliebt. Aus Liebe zu ihr wird er zum Tier und zum Gefallenen. Bettina Scheuritzel spielt ihn mit so viel Wonne, dass man am Ende vor Mitleid mitleidet bei dieser an und für sich unsympathischen Figur.

Zeit für das Triumvirat. Und da wir in Zeiten der Diversität leben, spielt es keine Rolle, dass eine Frau dabei ist. Sir Toby Rülps ist kein Geringerer als Gräfin Olivias Cousin, ein Umstand, den er vergeblich versucht zu nutzen. John Wesley Zielmann spielt sich die Seele aus dem Leib – was für eine Wucht!
Vergeblich sind auch Sir Andrew Bleichenwangs Bemühungen, die Aufmerksamkeit der schönen Gräfin auf sich zu ziehen. Nun, diese Vergeblichkeit wundert nicht, Julian Koechlin spielt den Sir großartig derangiert und absolut jenseits des höfischen Geschmacks. Maria. Nomen ist in diesem Fall definitiv nicht Omen. Maria, die Zofe der Gräfin, ist so ziemlich alles, was eine Frau niemals sein sollte. Marion Bordat als treibende Kraft des Triumvirats und durchtriebene „Giftmischerin“ ist mega!
Als wäre das nicht schon genug, spuckt der Trichter auch noch Violas Zwillingsbruder Sebastian aus. Im Schlepptau der verliebte Kapitän Antonio, dem der Jüngling sein Leben verdankt. Herrlich, dass der Bruder femininer und unbedarfter wirkt als die Schwester. Tim Czerwonitas schwebt förmlich über der Bühne, gehüllt in den zarten Schleier der Diversität. Björn Jacobsen als vergeblich verliebter Kapitän wirkt fast wie ein Fels in Brandung inmitten all der schrägen Gestalten.

Ensemble. Foto: Marie-Luise Manthei

Ein intensiver Spielzauber herrscht auf der Bühne. Es wird sich nicht gescheut, im Hier und Jetzt zu sein, so finden die Kämpfe des Alltags ganz ohne Gewehre statt. Koch-Duell ist out, also keine Holzlöffel, Christina Rast wählt die elegante Version. Kim Kardashian statt Frank Buchholz. In Illyrien kämpft man mit Handtaschen. Ein wenig Catwalk der Eitelkeiten. Eine Klasse für sich!
Wie die ganze Inszenierung. Christina Rast zitiert nicht, sie schafft etwas Einzigartiges, was in Ansätzen an Altes erinnert und Neues überspitzt. Bühnenbildnerin Franziska Rast, Kostümbildnerin Kathrin Krumbein, Musiker Malcolm Kemp, Videokünstler Luca Fois und Lichtgestalter Eduard Joebges – ein starkes Team. Franziska Rast und Luca Fois schaffen einen bespielbaren, eigentlich recht zurückgenommenen Raum, der trotzdem voller Raffinessen ist. Die seltsamen Größenverhältnisse, die Üppigkeit auf der Leinwand, die „schrägen“ Auf- und Abgänge. Und ganz viel Spielwiese. Und natürlich dieser Fisch! Wie aus dem Roman „Die Differenzmaschine“ von William Gibson und Bruce Sterling.
Pomp und Prunk auch auf den Leibern. Kathrin Krumbein fischt aus dem Vollen, um bei diesem Bild zu bleiben. Selbstverständlich nicht wahllos, in den Kostümen spiegeln sich die Figuren wider, die Kostüme drücken Empfindungen, Befindlichkeiten aus. So sind die Zwillinge in die leuchtend hellen Farben der Unschuld gekleidet (auch wenn Viola ganz schön viel mogelt, ist sie ein reine Seele), Malvolio wird in einen Pelz gehüllt, als die Wogen der Liebe das Tierische seines Wesens herauskitzeln. Olivia entledigt sich ihres schwarzen Kokons, als die Puppenruhe (heißt wirklich so!) vorbei ist und sie sich in leuchtendem Rot in die Fänge der Liebe wirft. Oder die glanzvoll-anrüchigen Kleider Marias und der übertrieben große Kragen Bleichenwangs, der mehr sein will, als er je sein kann … Eine wahre Fundgrube an Assoziationen.
Malcolm Kemp. Nun ja. Es sei nur eines gesagt: Was Malcolm Kemp kann, kann nur Malcolm Kemp. Musik, die da ist und doch nicht, subtil und dennoch wirkungsvoll. Nach der Mammutaufgabe von „Shockheaded Peter“ hier dezenter, dennoch keineswegs unsichtbar. Auf den Punkt gebracht auch die Lichtgestaltung von Eduard Joebges, der die Bühne in immer wieder neue Farbwelten taucht.

Was für ein Spektakel! Als würde man selbst in dem übergroßen Fisch auf den Wogen reiten, als würde man selbst in diesem Trichter verschwinden und, dem Strudel ausgesetzt, in einer Alice’schen Wunderwelt landen. Irgendwo hinter dem Spiegel. Diese Inszenierung ist aber keine schiere Unterhaltung, kein sinnloser Bilderrausch. Die Liebe in all ihren Facetten wird durchdekliniert, weder verschönt noch erniedrigt, einfach akzeptiert. Genau wie alles andere diese Akzeptanz erfährt. Der Körper, das Geschlecht, das Sein. Seid, was ihr wollt, aber seid etwas. Indem der arme Malvolio am Ende sogar Sympathie erfährt, gewinnt selbst das Schlechte einen Platz direkt neben dem Guten. Die zwei Seiten einer Medaille eben. Es wird weder ge- noch verurteilt. Und verlieren die Figuren ab und zu den Halt auf dem glitschigen Boden der ureigenen Triebe, so wird ihnen am Ende eine versöhnliche Hand gereicht.
Eine Menge, worüber man sinnieren kann. Sie beraubt die Inszenierung aber nicht ihrer Leichtigkeit. Man kann sich zurücklehnen, Gehirn wahlweise ausschalten und einfach nur genießen. Dass man diese Wahl bekommt, ist schon bemerkenswert. Aber genau das unterstreicht vielleicht die Absicht, die über allem steht. Alles ist erlaubt. Wie ihr wollt.

Ich könnte weiterschreiben … sage aber nur noch dieses:
Lasst euch entführen! Lasst euch fallen! Ihr werdet aufgefangen!

Was ihr wollt
Komödie von William Shakespeare
Inszenierung: Christina Rast
Theater Aachen Bühne

 

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